Bruchlandung mit MARS-Mission

Unverhältnismässig, widerrechtlich, lückenhaft: Die Behörden müssen sich beim Aufbau statistischer Grundlagen für den ambulanten Gesundheitssektor (Projekt MARS) happige Vorwürfe der ärztlichen Standesorganisationen anhören. Nun rudern sie zurück.

Der Schweiz fehlen Zahlen zur ambulanten Versorgung. Statistische Lücken bestehen vor allem bei Arztpraxen und Spitalambulatorien. Diese verursachen fast einen Viertel der Gesamtkosten des Gesundheitswesens. Auf das Fehlen eines Informationssystems hat auch die OECD regelmässig in ihren Berichten über die Schweiz hingewiesen. Im Dezember 2007 verabschiedete das Parlament das revidierte Krankenversicherungsgesetz. Dabei hiess es auch zwei Gesetzesartikel gut, die den Ausbau der Datengrundlagen im ambulanten Bereich regeln. Der Gesetzgeber betraute das Bundesamt für Statistik BFS mit dem Aufbau und dem Betrieb eines Informationssystems. Unter dem Titel MARS (Modules Ambulatoires des Relevés sur la Santé) trieben die Verantwortlichen beim Bund die Arbeiten voran.

Umfassende Überwachung
Ihre revidierte Verordnung über die Krankenversicherung fiel allerdings bei allen Seiten krachend durch. Selten übten Kantone, Ärztegesellschaften und Patientenorganisationen in einer Vernehmlassung so harsche Kritik. Arztpraxen, Spitalambulatorien und Pflegeinstitutionen würden gezwungen, umfangreiche Kennzahlen zu Personal, Patienten, Leistungen und Finanzen zu liefern. Die Betroffenen seien nicht nur verpflichtet, sämtliche Daten zur Finanzbuchhaltung offenzulegen, sondern auch Diagnosen sowie Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand von Patienten lückenlos anzugeben. Damit wichen die Behörden, so die Ärztevereinigung FMH, massiv von den Zielen des Gesetzgebers
ab. Das Krankenversicherungsgesetz KVG erlaubt die Datenerhebung, um zu überprüfen, ob Arztpraxen und Spitalambulatorien wirtschaftlich arbeiten und ob die Qualität der Leistungen stimmt. Dies reichte den Behörden offenbar nicht. Sie strebten eine weitreichende Überwachung von Arzt und Patient an. Betriebskontrollen von Arztpraxen sind dank den Zahlen der Finanzbuchhaltung ebenso möglich wie das Identifizieren einzelner Patienten aufgrund der übermittelten Diagnosedaten.

Aufweichung des Arztgeheimnisses
Gegen diese behördliche Datensammelwut wehrten sich die Ärzteorganisationen vehement. Sie warfen den Behörden Unverhältnismässigkeit und Gesetzesbruch vor. So wäre jeder Arzt, jede Ärztin gezwungen, persönliche Daten von sich und den Patienten zu übermitteln – einzeln und nicht im Datenkollektiv. Für die FMH stand im August 2015 deshalb fest: Es droht die Aufweichung des Arztgeheimnisses. Auch für die Konferenz der Kantonalen Aerztegesellschaften KKA sind für Betriebsvergleiche keine personenbezogenen Daten notwendig. Angaben über Anzahl und Struktur von Arztpraxen oder Spitalambulatorien würden ausreichen.

Behördliches Fehlverhalten
Die KKA sah durch die Verordnung gar gesetzliche Aufgaben vermischt. Die medizinische Behandlung muss nach dem Krankenversicherungsgesetz wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Zu prüfen, ob medizinische Leistungserbringer diese Kriterien einhielten, sei Aufgabe der Versicherer, so die KKA. Der Bund handle widerrechtlich, wenn er die Wirtschaftlichkeit medizinischer Betriebe selber überprüfe. Auch die FMH vermutete, dass sich die Behörden dank der geänderten Verordnung neue Aufgaben zuschanzen wollen.

Löchriges Reglement
Anfang Januar 2016 trat die umstrittene Verordnung in Kraft. Die vorgebrachten Einwände der Ärzteschaft verhallten ungehört. Nach wie vor herrscht Intransparenz und Rechtsunsicherheit. Dies trotz eines offiziellen Bearbeitungsreglements des Bundesamtes für Statistik. Es macht ganz den Anschein, als wollten sich die Behörden bewusst Hintertüren offen lassen, um den Umfang der Datenerhebung nach eigenem Ermessen zu erweitern. Nur so lässt sich das Beharren auf Einzeldatensätzen erklären. Für die KKA ist dies nicht nachvollziehbar. Denn: Werden Patientendaten als Einzeldatensätze weitergegeben, kann ein Versicherer aufgrund der bei ihm vorhandenen Rechnungsdaten ohne weiteres die betroffenen Patienten identifizieren.

Aus MARS wird vorläufig MAS
Ein juristisches Gutachten empfiehlt den Ärzteorganisationen, dem Bearbeitungsreglement mit grösster Zurückhaltung und Skepsis zu begegnen. Sollten die Behörden den Forderungen der Ärzteschaft nach einer verhältnismässigen und rechtskonformen Datenerhebung nicht nachkommen, sollte eine flächendeckende Verweigerungshaltung erwogen werden, so das Gutachten. Der Druck der Ärzteschaft zeigt Wirkung: Am 15. November 2016 starteten die Statistiker des Bundes zwar mit der Erhebung – doch in abgeänderter Version. Aus MARS wird MAS (Medical Ambulatory Structure): Arztpraxen und ambulante Zentren sollten nun bis Ende Februar 2017 aggregierte Strukturdaten zu statistischen Zwecken liefern. Auch das Bundesamt für Gesundheit BAG krebst zurück: Vorerst will es auf Einzeldatensätze und die Aufsichtsfunktion über Arztpraxen und ambulante Zentren verzichten. Der brisante Grund: fehlende gesetzliche Grundlagen. Die Behörde geht aber, so die Lesart des offiziellen Schreibens, davon aus, dass diese juristischen Lücken nächstens geschlossen werden. Für viele Ärzteorganisationen ist dies ein Alarmsignal. Sie empfehlen ihren Mitgliedern, vorerst abzuwarten, bis sämtliche Rechtsfragen geklärt sind. Ärztinnen und Ärzte wollen dazu beitragen, dass die Schweiz über verlässliche und aussagekräftige Daten über den ambulanten Gesundheitssektor verfügt – aber nicht auf Kosten der Patientensicherheit und des Datenschutzes.

Bildlegende

Ist die MARS-Mission gescheitert? Das Bundesamt für Gesundheit krebst vorerst zurück und verlangt keine Daten ein, die Rückschlüsse auf einzelne Patienten erlauben würden. (Bild: Keystone)

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