Mehr Ausbildungsplätze, bessere Arbeitsbedingungen

Seit Jahren wird der Mangel an Pflegepersonal sowie Ärztinnen und Ärzten verschiedener Disziplinen in der Schweiz beklagt. Woher kommt dieser Mangel, und wie kann man ihm begegnen? Zwei Interviews.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Es braucht jetzt mehr Gesundheitsfachpersonen. Wir haben mit Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflegefachleute, und Aldo Kramis, Co-Präsident des Verbands Deutschschweizer Ärztegesellschaften VEDAG, darüber gesprochen, wie sie die Situation erleben und wo sie Handlungsbedarf sehen.

Yvonne Ribi, Ihr Verband thematisiert seit Jahren die schwierigen Arbeitsbedingungen und den Personalmangel in den Pflegeberufen. Ende 2017 haben Sie die Volksinitiative für eine starke Pflege eingereicht. Hat sich die Situation durch die Pandemie verschärft, oder hat sich nur der öffentliche Diskurs gewandelt?
Yvonne Ribi: Die Situation in der Pflege war auch vor der Pandemie sehr angespannt. Wir bilden nicht einmal die Hälfte der diplomierten Pflegefachpersonen aus, die wir brauchen. Rund 46 % der Ausgebildeten steigen während des Berufslebens aus dem Beruf aus. Bis 2030 würden zusätzlich 65’000 Pflegende gebraucht – wir steuern auf einen Pflegenotstand zu. Durch die Pandemie wurde die Systemrelevanz der Pflegearbeit in den Fokus gerückt. Und es wurde deutlich, dass das Nadelöhr zur Bewältigung einer Pandemie im Gesundheitswesen nicht bei den Maschinen liegt, sondern beim fehlenden Personal; besonders sichtbar ist dies in der Intensivpflege.

Die Löhne scheinen nicht der Hauptgrund zu sein, dass Fachkräfte fehlen und Pflegefachkräfte sich beruflich umorientierten, wie jüngst eine Einordnung in der NZZ zeigte.Worauf führen Sie den Personalmangel beim Schweizer Pflegepersonal zurück?
Zum einen bilden wir zu wenig Leute aus, zum anderen ist die Berufsverweildauer zu kurz. In Befragungen geben ehemalige Pflegefachpersonen emotionale Erschöpfung als Hauptgrund für den Berufsausstieg an: Ständiger Zeitdruck und zu knappe Stellenpläne führen dazu, dass man nicht die Arbeit leisten kann, die man gelernt hat. Aus einer Studie vom letzten Frühling wissen wir, dass rund 30 % der befragten Pflegenden Anzeichen von Burnout haben. Dass man aus dem Beruf aussteigt, um die eigene Gesundheit zu schützen, ist eine Konsequenz daraus.

Wo sehen Sie besonders grossen Handlungsbedarf?
Natürlich braucht es eine Ausbildungsoffensive, aber man muss auch schauen, dass die Leute im Beruf bleiben. Und das erreicht man, indem man in allen Institutionen mehr Personal zur Verfügung stellt. Das führt zu einer besseren Pflegequalität und zu einer höheren Patientensicherheit. Und die Arbeitsbedingungen – dazu gehören schon auch die Löhne, Arbeit auf Abruf, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Zeitzulagen, Ferien und so weiter – müssen dahingehend angepasst werden, dass sie der Verantwortung entsprechen, die eine Pflegefachperson trägt.

Was wünschen Sie sich von der Politik?
Ich wünschte mir, dass die Politik wirksame Massnahmen ergreift, um nachhaltig dafür zu schauen, dass man den Pflegeberuf – ein wunderschöner Beruf – ein Leben lang gesund und motiviert ausüben kann.

Yvonne Ribi ist ist Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK-ASI.

 

Aldo Kramis, auch die Ärzteschaft macht schon seit Jahren auf Nachwuchsmangel in der Schweiz aufmerksam. In welchen Fachdisziplinen ist der Mangel besonders gravierend?
Aldo Kramis: Im Bereich der Grundversorgung, also in der Hausarztmedizin, Pädiatrie, Psychiatrie und in gewissen chirurgischen Disziplinen, ist der Mangel nachgewiesen. Ebenso in der Gastroenterologie. In kleineren Fächern, in denen man leichter Teilzeit arbeiten kann, gibt es aktuell ausreichend Fachkräfte.

Woran liegt das?
Immer mehr jüngere Fachärztinnen und -ärzte wollen Teilzeit arbeiten. Dadurch werden Fächer, die eine 24-Stunden-Präsenz verlangen, weniger interessant. Es gibt immer mehr Sub-Spezialisierungen und Gruppenpraxen, in denen Teilzeitarbeit möglich ist. Obwohl deutlich mehr Mediziner/-innen ausgebildet werden, sind es immer noch zu wenig: Mit der heutigen Teilzeittätigkeit braucht es drei bis vier Fachpersonen, um einen älteren, erfahrenen Hausarzt zu ersetzen. Ausserdem wurden Kliniken und Ambulatorien ausgebaut, wodurch es auch überall mehr Personal braucht.

Wo sehen Sie besonders grossen Handlungsbedarf?
Wir haben immer noch den Numerus Clausus; nur ein Bruchteil der Interessierten wird zum Medizinstudium zugelassen. Der Fachkräftemangel sollte dazu anregen, dieses System zu hinterfragen. Zudem gibt es immer mehr administrativen Aufwand, Kontrollmechanismen und Regulierungen. Assistenzärzte sind 60–70 % ihrer Arbeitszeit damit beschäftigt, administrative Aufgaben zu erledigen. Für viele dieser Aufgaben ist ärztliche Kompetenz kaum notwendig. Pflegende mit Masterabschluss, beispielsweise Advanced Practice Nurses (APN), könnten hier in den Praxen integriert werden und mehr Verantwortung im Chronic care management übernehmen.

Was wünschen Sie sich von der Politik im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel bei der Ärzteschaft?
Es müssen genügend Fachpersonen ausgebildet werden, die Administration darf nicht ständig weiter ausgebaut werden, Medizinische Praxiskoordinatorinnen (MPK) und APN sollten in der Praxis anerkannt werden. Allgemein braucht es eine sinnvolle, gerechte und vorausschauende Versorgungsplanung im Gesundheitswesen.

Aldo Kramis ist Co-Präsident des Verbands Deutschschweizer Ärztegesellschaften VEDAG.

 


1 www.nzz.ch/schweiz/pflege-sind-die-loehne-in-der-schweiz-wirklich-so-tief-ld.1589717

Bildlegende

In der Corona-Pandemie wurde besonders deutlich: Im Ernstfall mangelt es in der Schweiz weniger an den Apparaturen als an den Fachkräften, die sie bedienen – und zwar sowohl in den Pflegeberufen als auch in vielen ärztlichen Fachrichtungen.

Bild: Keystone

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