Der Knall bleibt aus
Vertreter der Krankenkassen und der Politik sehen das Schweizer Gesundheitswesen seit über 20 Jahren vor dem Untergang. Der oft vorhergesagte Zusammenbruch ist aber nie eingetroffen.
«Wenn wir nichts unternehmen, fahren wir das Gesundheitssystem an die Wand», warnte eine Vertreterin eines grossen Dachverbands der Krankenversicherer unlängst. Sie steht mit ihrer Aussage nicht allein. Mit dem Kostendruck im Gesundheitswesen wird seit Jahren Stimmung gemacht. Medien greifen die Hiobsbotschaften gerne auf und berichten von «dramatischer Kostenentwicklung», «Kostenexplosion im Gesundheitswesen», «stürmischem Prämienherbst» und einer «besorgniserregenden Entwicklung». Dieser Diskurs ist nicht neu. Bereits im Abstimmungskampf über die Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1994 wurden Schlagworte wie die Prämienbelastung oder «ungebremstes Kostenwachstum» als Argumente ins Feld geführt – sowohl für als auch gegen die Einführung des KVG.
Mit Statistiken Politik machen
Der Kostendruck im Gesundheitswesen wird seit Jahren gezielt instrumentalisiert. Bewusst werden Begriffe vermischt oder Zahlen gar absichtlich falsch dargestellt. Mit Statistiken wird heute Politik gemacht. An vorderster Front: das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Eine Grafik des BAG zeigt eine rote Diagonale, die suggeriert, dass der Prämienanstieg im Vergleich zum Wachstum des BIP pro Kopf enorm ist. Bewusst wird verschwiegen, dass die Grafik den Anstieg der sogenannten «Standardprämie» abbildet. In Realität haben im Jahr 2020 weniger als 15 % der Versicherten diese «Standardprämie» bezahlt. Der Prämienanstieg wird so absichtlich verzerrt dargestellt, um daraus Forderungen für gesundheitspolitische Reformen abzuleiten. Diese Strategie ist überaus erfolgreich.
Legitimation für mehr Staatsmedizin
Die Politik ist dem Ruf nach mehr staatlicher Intervention zur Dämpfung des Kostenanstiegs in grossem Umfang nachgekommen. Seit 2000 hat sich die Zahl gesundheitspolitischer Vorstösse verfünffacht. Die Gesetzestexte haben sich in dieser Zeit verdoppelt. Mehr staatliche Steuerung bringt aber nicht zwingend bessere Resultate. Dazu genügt ein Blick über die Landesgrenzen. Erfahrungen aus Deutschland, Grossbritannien oder den Niederlanden zeigen, dass trotz hoher Regulierung die Gesundheitskosten weiter steigen. Leidtragende der verfehlten Steuerung sind Patientinnen und Leistungserbringende gleichermassen. Patienten bezahlen höhere Beiträge und haben einen eingeschränkteren Zugang zu medizinischen Leistungen. Und Leistungserbringende müssen deutlich mehr Zeit aufwenden für administrative Arbeiten.
Einkommen wachsen stärker als Prämien
Die aktuelle Gesundheitspolitik hat so eine Regulierungsmaschinerie angestossen. Diese läuft auf Hochtouren und fördert inzwischen auch Vorstösse, die an die Substanz gehen. Zum Beispiel die neuen Zulassungsregelungen, die nach fünf Monaten für drei Fachgebiete bereits wieder gelockert werden mussten. Doch vom viel besagten Knall fehlt bislang jede Spur. Befürworter dieser Vorstösse argumentieren mit populistischen Mythen. Das bekannteste Beispiel: Schweizer Haushalte können Prämien nicht mehr finanzieren. Der Blick in die Daten zeigt ein differenzierteres Bild. Krankenkassenprämien belasten durchschnittliche Haushalte weit weniger stark als oft kolportiert. Für die Grundversicherung beträgt sie gemäss dem Bundesamt für Statistik aktuell 6,7 Prozent. Nach allen Ausgaben können private Haushalte heute pro Monat im Schnitt mehr als 1800 Franken bei Seite legen.
Mit dem Gesundheitssystem zufrieden
Die Finanzierbarkeit der Prämien ist – anders als uns dies zahlreiche Exponenten einreden – gesichert. Unser Gesundheitswesen ist krisenresistent, und die meisten Patientinnen und Patienten sind zufrieden. So bewerten im jüngsten Gesundheitsmonitor (2022) nicht ganz zwei Drittel der Befragten, die Qualität des Schweizer Gesundheitswesens als sehr gut oder eher gut. International betrachtet ein herausragender Wert. Patientinnen und Patienten wissen den leichteren Zugang zu medizinischen Leistungen und die vergleichsweise kurzen Wartefristen zu schätzen. Und die Qualität der medizinischen Versorgung stimmt. Ein starker Indikator dafür sind die «vermeidbaren Todesfälle» pro Jahr. Hier weist unser Gesundheitswesen europaweit die tiefste Quote aus.
Gesundheitspolitischer Lichtblick
Die Untergangsrhetorik ist übertrieben und realitätsfern. Gleichwohl brauchen wir kluge, weitsichtige Entscheide und gezieltes Handeln der Behörden. Auch wenn für die meisten Haushalte die Prämien bezahlbar bleiben, brauchen Personen und Familien mit kleinem Budget Unterstützung – mit Prämienverbilligungen. Das ist für die Ärzteschaft unbestritten. Hier stehen Bund und Kantone, wie bei vielen anderen gesundheitspolitischen Geschäften auch, in der Pflicht. Seit Jahren macht sich die Ärzteschaft für die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) stark. EFAS brächte jährliche Einsparungen von einer Milliarde Franken und würde Versorgungsmodelle wie die integrierte Versorgung fördern. Eine sinnvolle Lösung, ohne Einbusse für Patientinnen und Patienten. Die Vorlage wurde vor über 14 Jahren im Parlament eingereicht. Ihr Durchbruch scheint nah: Nach Bundesrat und Ständerat hat sich auch die nationalrätliche Gesundheitskommission für EFAS ausgesprochen. Dieser Entschied macht zuversichtlich.