Der neuen Welt mit offenen Augen begegnen

In einigen Jahren wird die «Generation Ärzteschwemme» die Seite wechseln: Aus Ärzten werden Patienten und jüngere Kolleginnen werden die bisher angestammte Rolle einnehmen. Wen werden sie antreffen? Den «grumpy old man», der dem medizinischen Nachwuchs Wehleidigkeit und Verweichlichung vorwirft? Der nörgelnden Tante, der man aus Prinzip nichts recht machen kann, weil «ist einfach so»?

Meine Mutter war Ärztin, promoviert im Jahre 1962. Sie hielt von den Fähigkeiten der Jungärzteschaft wenig: Verschreckt und ängstlich würden sie sich an Ratschläge aus dem Computer klammern, anstatt auf Gelerntes zurückzugreifen und den gesunden Menschenverstand einzuschalten. «Ich brauche keine Tabletten, ich brauche Bewegung und etwas Vernünftiges zu essen!» schleuderte sie der jungen Assistenzärztin entgegen, die ihr ein blutdrucksenkendes Mittel verabreichen wollte.

Ich hätte meine Mutter nicht als Patientin haben wollen. Gut, bin ich Ökonomin geworden. Meine Mutter quittierte dies mit dem Hinweis, das heutige Gesundheitswesen koste auch deswegen viel zu viel, weil die jungen Kollegen viel zu viel Unnötiges tun und anordnen würden. Ich wagte nicht, sie auf die Komplexität der heutigen Situation anzusprechen. Komplexität war in ihren Augen etwas für Kleinmütige. 

Und doch prägt Komplexität im Jahr 2025 unsere Lebenswelt. Nichts ist mehr «einfach so», alte Rezepte funktionieren nicht mehr. Weder in der Medizin noch in der Politik. Das kann man verfluchen oder beklagen. Oder man begegnet der neuen Welt mit offenen Augen und kühlem Kopf: ChatGPT & Co. sind weder Feinde noch Heilsbringer, der Mangel an Fachpersonal bedeutet auch bei zunehmender fachlicher Ausdifferenzierung nicht das Ende des Abendlandes und die administrativen Anforderungen sind nicht lediglich Zumutungen einer Herde irrgewordener Amtsschimmel. Vielmehr sind sie logische Entwicklungen einer immer komplexer werdenden Welt.

Ich, als künftige Patientin, bin zuversichtlich, dass jene «auf der anderen Seite» diese Herausforderungen annehmen werden, so wie es ihre Vorväter und Vormütter seit jeher getan haben.

Annamaria Müller
Präsidentin Schweizer Forum für Integrierte Versorgung, VR-Präsidentin Freiburger Spital, frühere Vorsteherin Spitalamt des Kantons Bern und frühere Generalsekretärin der FMH

Der Gastkommentar gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder, die von der Haltung der Ärzteschaft und der Redaktion abweichen kann.

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Photo : iStock

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