Arztpraxis im Jahr 2030: Eine Schreckensvision

Die aktuell diskutierten gesundheitspolitischen Vorlagen hätten schwerwiegende Folgen für Ärzteschaft und Patienten. Wir werfen einen Blick in eine mögliche düstere Zukunft.

Freitagmorgen, 8 Uhr, am 15. März 2030. Dr. med. Monika Meier schliesst die Tür zur Grosspraxis auf. Hier arbeitet die 35-Jährige als eine von vier angestellten Fachärztinnen für Allgemeine Innere Medizin. Eigentlich hatte sie sich immer gewünscht, so praktizieren zu können wie früher ihr Vater, der ebenfalls Arzt war. Er kannte seine Patienten, betreute sie manchmal über viele Jahre hinweg, sie vertrauten ihm. Seither hat sich einiges verändert. Ärztinnen und Ärzte müssen unzählige Vorgaben erfüllen und Auflagen berücksichtigen. Der direkte Kontakt zu den Patienten hingegen wird immer kürzer. Die straffe Tagesplanung lässt keine Verzögerungen zu.

Monika Meier hatte Glück, dass in ihrem Wohnkanton noch Ärzte ihrer Fachrichtung zugelassen wurden, als sie auf Arbeitssuche war. Inzwischen hat der Kanton die Hürden für junge Ärztinnen und Ärzte deutlich erhöht. So sollen Gesundheitskosten eingespart werden.

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Zum Praxisteam gehören nicht nur Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen, sondern auch viele administrative Mitarbeitende. Die gesundheitspolitischen Massnahmen der 2020er-Jahre haben ganz neue Aufgabenbereiche geschaffen. Zum Beispiel der Qualitätsbeauftragte: Er erledigt alle Arbeiten rund um die vorgeschriebene ISO-Zertifizierung der Praxis. Eine weitere Mitarbeiterin kümmert sich um die Registrierung der Praxis als Erstberatungsstelle resp. Hausarztpraxis, wie es früher hiess. Das ist sehr wichtig, weil ein grosser Teil der Praxiseinnahmen daraus resultiert: Für jede versicherte Person, die die Praxis als Erstberatungsstelle bei ihrer Krankenkasse registriert, wird eine jährliche Pauschale ausbezahlt. Dr. Meier findet es zwar stossend, dass der Leiter der Grosspraxis manchmal Wege findet, ältere und chronisch kranke Patienten abzulehnen. Aber sie versteht die Strategie: Junge, gesunde Patienten nehmen bei gleichbleibender Pauschalentschädigung weniger Leistungen in Anspruch.

Die erste Patientin, die Dr. Meier heute empfängt, ist aber eine privat versicherte Frau. Sie wurde gern aufgenommen, obwohl sie 77-jährig ist und verschiedene Vorerkrankungen hat. Denn die Entschädigung, die die Praxis erhält, ist bei privat Versicherten etwas höher. Danach steht eine 35-minütige telemedizinische Konsultation auf dem Programm. Die Digitalisierung macht zwar viele Arbeitsabläufe effizienter. Dennoch bleibt selten genug Zeit, dass Dr. Meier sich so um ihre Patienten kümmern kann, wie sie es gern möchte.

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Alle Leistungserbringer, also Spitäler, Ärztinnen und Ärzte, Pflegeheime, Physiotherapeutinnen, Labors, erhalten ein so genanntes «Wachstumsziel» – faktisch eine zwingende Budgetvorgabe. Am Ende des Quartals rückt dieses Ziel, eine eigentliche Deckelung, immer näher. Monika Meier und ihre Kollegen dürfen dann nicht mehr alle Patienten behandeln, um keine das Wachstumsziel überschreitenden Kosten zu generieren.

Manchmal muss die Praxis sogar einige Tage komplett schliessen. Die Patienten müssen halt warten. Auch deshalb ist es nicht sinnvoll, zu viele ältere oder chronisch Kranke aufzunehmen – aufwändige Fälle sprengen bald einmal die Budgetvorgaben. Ganz zu schweigen von der strengen Überprüfung der Krankenkassen, falls ein Behandler in einem Quartal überdurchschnittlich hohe Rechnungen ausweist. Zu beweisen, dass der Mehraufwand medizinisch gerecht fertigt war, ist eine immense Arbeit. Das kann sich die Praxis finanziell einfach nicht leisten.

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Einige von Monika Meiers allgemein versicherten Patienten mussten so lange auf einen Termin warten, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlimmerte. So kann aus einem eigentlich harmlosen Unfall – zum Beispiel ein Diabetiker, der sich mit einem Messer verletzt hatte – ein schwerwiegender gesundheitlicher Problemfall werden. Dr. Meier schickt diese Patienten dann in die Notaufnahme des Spitals, weil meistens ein stationärer Aufenthalt nötig ist. Das spart zwar keine Kosten, aber so funktioniert das System.

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Die Einführung der verbindlichen Kostenziele hat das Schweizer Gesundheitswesen tiefgreifend verändert. Zuvor hatte die Schweiz im internationalen Vergleich regelmässig gute Noten für die Qualität und den Zugang zum Gesundheitssystem erhalten. Inzwischen ist sie ins Mittelfeld abgerutscht. Patienten müssen teilweise Wochen oder gar Monate warten, bis sie einen Termin beim Spezialisten erhalten oder für einen Eingriff ins Spital können.

Das Kostenwachstum im Gesundheitswesen wurde trotzdem nicht gebremst. Die Prämien für die Bevölkerung jedenfalls steigen im Jahr 2030 wieder stark an. Gründe sind die demografische Entwicklung, der Fortschritt in der Medizin und die zunehmende Administrativarbeit. Um genau zu wissen, wer wo was ausgibt, müssen riesige Datenmengen erfasst und ausgewertet werden. Nicht nur jede Praxis und jedes Spital muss dafür zusätzliches Personal beschäftigen, sondern auch die kantonalen und die eidgenössischen Verwaltungen. Das frisst einen beachtlichen Teil der Einsparungen wieder auf oder übersteigt diese sogar.

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Nach einem langen Tag schliesst Monika Meier abends die Tür zum Sprechzimmer ab. Sie ist müde. Als Ärztin steht sie tagtäglich unter grossem Zeit- und Kostendruck. Während den Gesprächen mit ihren Patienten hört sie im Hinterkopf die Uhr ticken. Die geltenden Tarife lassen es kaum zu, mit den Patienten mehr als zwei Worte zu wechseln. Sie denkt oft an die Hausarztpraxis, in der ihr Vater gearbeitet hatte. Er konnte sich auch mal länger mit einem Patienten unterhalten, wenn er dies als nötig erachtete, musste keine Patienten ablehnen und auch nicht tagelang seine Praxis schliessen, wenn das Budget aufgebraucht war.

Ärztinnen und Ärzte hatten gewarnt, dass das Globalbudget niemandem dienen würde. Nicht den Ärzten, nicht den Prämienzahlern und schon gar nicht den Patienten. Schade, denkt Monika Meier. Die Politiker können nicht sagen, sie hätten es nicht besser gewusst.

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit der Aerztegesellschaft des Kantons Bern entstanden. Er erscheint gleichzeitig im Magazin doc.be 2/21.

Bildlegende

In einem düsteren zukünftigen Jahr 2030 haben die gesundheitspolitischen Massnahmen der 2020er-Jahre die Arzt-Patienten-Zeit durch Budgetvorgaben streng begrenzt und durch Unmengen an Administration ersetzt. Das beste Gesundheitssystem Europas, das die Schweiz zu Beginn der 2020er Jahre noch war, ist zu einer anonymen Bürokratie-Einöde verkommen.

Bild: iStock

 

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