Freie Arztwahl unter Beschuss

Das zweite Massnahmenpaket zur Kostendämpfung enthält einen frontalen Angriff auf die freie Arztwahl: Obligatorische Erstberatungsstellen sollen eingeführt werden. Dagegen spricht nicht nur die Entmündigung der Patienten. Das System enthält auch gefährliche Fehlanreize.

Ein Zwang zum Hausarztmodell für die ganze Bevölkerung: Mit dieser Massnahme will Bundesrat Alain Berset rund 100 Millionen Franken pro Jahr im Gesundheitswesen einsparen. Die obligatorische Erstberatungsstelle ist einer der Kernpunkte des zweiten Kostendämpfungspakets, das der Bundesrat im August lanciert hat. Grundsätzlich soll niemand mehr direkt zum Spezialisten gehen können, auch nicht gegen einen Aufpreis bei den Krankenkassenprämien. Der Erstbehandler entscheidet, ob er den Patienten an ein Spital oder an einen Spezialisten überweist. Der Artikel ist somit ein direkter Angriff auf die freie Arztwahl.

Freiwillig versus Zwang
Das Vorhaben wird es schwer haben, darin sind sich Gesundheitspolitiker einig. 2012 verwarfen über drei Viertel der Stimmbevölkerung die ähnliche Managed- Care-Vorlage – wobei diese dem Patienten noch deutlich mehr Freiheiten liess. Auch die Ärzteschaft lehnt das Vorhaben ab. Ein Referendum hätte deshalb gute Chancen. Bundesrat Alain Berset argumentiert zwar, dass bereits heute 70 Prozent der Schweizer ein Hausarzt- oder Telemedizinmodell ihrer Krankenkasse nutzen. Allerdings tun sie dies freiwillig und erhalten im Gegenzug einen Prämienrabatt.  

Hausärztinnen und Hausärzte, die ihre Patienten und deren Krankengeschichte kennen, haben eine Schlüsselrolle in der Gesundheitsversorgung. Doch es gibt Patienten, die mit ihren Gesundheitsproblemen selbst gut vertraut sind und seit längerem vom selben Spezialisten behandelt werden, zum Beispiel bei wiederkehrenden Hautausschlägen. In diesem Fall verursacht der Termin bei der Erstberatungsstelle allen Beteiligten unnötigen Aufwand.

Hausarztmangel wird noch verschärft
Bei der konkreten Umsetzung der Idee bleiben noch viele Fragen offen. Zum Beispiel jene nach den Kapazitäten. Bereits heute gibt es zu wenig Hausärztinnen und Hausärzte in der Schweiz. Zwar könnten auch Telemedizin-Anbieter und HMO-Netzwerke als Erstberatungsstelle fungieren. Aber das System würde für die Behandler der Erstberatungsstellen zusätzliche administrative Aufgaben nach sich ziehen. So könnten sie eher weniger Patienten als heute behandeln. Der Hausärztemangel würde verschärft.  

Gefährliche Fehlanreize
In Kombination mit den fixen Kostenzielen, die ebenfalls im zweiten Kostendämpfungspaket enthalten sind, fördert das obligatorische Hausarztmodell auch neue Fehlanreize. Leistungserbringer erhielten nämlich eine jährliche Pauschale für jede versicherte Person, für die sie als Erstberatungsstelle fungieren. Somit wäre es für sie besonders lukrativ, junge und gesunde Patienten zu bevorzugen: Diese brauchen seltener eine medizinische Erstberatung, und aufwändige Behandlungen, die das Kostenziel überschreiten könnten, sind weniger häufig. Das Nachsehen hätten ältere Patienten oder chronisch Kranke, die regelmässig auf den Hausarzt angewiesen sind. Sie hätten Mühe, überhaupt noch einen Hausarzt zu finden.

Weitere Fehlanreize brächte der Systemwechsel auf Seiten der Krankenkassen. Sie könnten beispielsweise nur besonders billige Hausärzte zulassen. Die Patienten müssten auf Verlangen der Krankenkasse ihren angestammten Hausarzt aufgeben.

Arztwechsel nur mit Erlaubnis des Staates
Problematisch ist zudem die Frage, unter welchen Bedingungen Patienten ihren Hausarzt wechseln können. Gemäss dem vorgeschlagenen Gesetzestext regelt der Bund die Voraussetzungen, unter denen dies möglich ist. Das bedeutet eine staatliche Bevormundung des Patienten und schädigt das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Letzteres spielt gerade bei der medizinischen Erstberatung eine wichtige Rolle.  

Auf die Ärzteschaft hören
Die Ärztevereinigung FMH ist dezidiert gegen den Vorschlag des Bundesrats. Das heutige Hausarztmodell beruhe auf Freiwilligkeit. «Selbst wenn die gesamte Bevölkerung freiwillig im Hausarztmodell versichert wäre, wäre eine staatliche Zwangsregelung abzulehnen, denn mit der Freiwilligkeit und Konkurrenz der Modelle ginge auch die Qualität verloren», schreibt FMH-Präsident Jürg Schlup in der Schweizer Ärztezeitung.

Der Bundesrat erhofft sich mit der Massnahme, im Sinn der Kosteneffizienz unnötige Behandlungen zu vermeiden. Einsparungen wären aber auch möglich, ohne dass sie zulasten der Patienten gehen. Die Ärzteschaft will nämlich auch sparen. Unter anderem mit der Initiative Smarter Medicine, die das Thema der Fehl- und Überversorgung aus ärztlicher Sicht bearbeitet: Medizinische Fachgesellschaften veröffentlichen Top-5-Listen mit ärztlichen Massnahmen, die in den meisten Fällen überflüssig sind. Die Empfehlungen sind wissenschaftlich geprüft und von den Patienten einsehbar. Somit können Arzt und Patient gemeinsam entscheiden, welche Behandlung die beste ist – ohne dass der Staat sich einmischt.  

Bildlegende

Foto: Keystone

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