Rettet Corona die kleinen Landspitäler?

Die Schweiz hat überdurchschnittlich viele Spitäler. Und sie will im Gesundheitswesen sparen. In den letzten Jahren stellte sich daher die Frage: Wie viele Spitäler braucht unser Land? Die Lösungsansätze reichten vom moderaten Abbau bis zur Reduktion auf einige Grossspitäler. Führen die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Kapazitätsengpässe zu einer Neubewertung dieser Frage?

Die Spitalpolitik in der Schweiz war in den letzten Jahren geprägt von Kritik an aufgeblasenen Strukturen – Stichwort «Jedem Täli sis Spitäli». Das Gesundheitswesen der Schweiz macht mit 80 Milliarden Franken rund 11% des Bruttoinlandproduktes aus; ein Drittel davon entfällt auf die Spitäler. Die durch die Spitäler ausgelösten Kosten sind damit beträchtlich.

Reformvorschläge zielten in den letzten Jahren immer in die gleiche Richtung: Weniger, dafür sehr grosse Spitäler. Die radikalsten Vorschläge legen einen Umbau nach skandinavischem Vorbild nahe. In Dänemark etwa ersetzen 16 «Superspitäler» die meisten bestehenden Strukturen. Zwar löst dies auch Unmut aus, aber laut Experten haben die Dänen eingesehen, dass 16 Spitzenspitäler eine bessere Medizin bieten können – und das ist ihnen wichtiger als die Distanz zum Wohnort. Schweden verfügt für seine 10 Millionen Einwohner über ungefähr gleich viele Spitäler wie der Kanton Bern, in dem nur eine Million Menschen leben. Grösser noch als der Unterschied der Bevölkerungszahl ist derjenige der Distanz: Anders als in Schweden dauert die Fahrt ins Spital hierzulande meist weniger als 20 Autominuten.

Flurbereinigung gestoppt?
Einige Reformvorschläge sind bereits in der Realisierungsphase: Der Kanton St. Gallen zum Beispiel plant den Umbau von fünf Regionalspitälern zu Notfallkliniken. Stationäre Spitalangebote werden dort nicht mehr angeboten. Auch im Berner Oberland werden Spitäler in ambulante Gesundheitszentren umgebaut; so müssen beispielsweise Saanenländer seit der Schliessung des Spitals Saanen im Jahr 2012 zwar noch nicht bis Bern, aber doch bis Zweisimmen fahren, um stationär behandelt zu werden. Eine radikalere, mit vielen Turbulenzen verbundene Lösung fanden die Kantone Waadt und Wallis, die 2020 ein Regionalspital Riviera-Chablais einweihten. Es ersetzt die Kleinspitäler von Vevey, Montreux, Monthey und Aigle. Kurz: Es zeichnete sich eine Flurbereinigung der Schweizer Spitallandschaft ab.

Die Corona-Pandemie könnte diese Situation verändern. Denn die grossen Spitäler, die sich von Anfang an um die Behandlung von Covid-19-Patienten kümmerten, gelangten diesen Winter an ihre Grenzen. Um die Überlastung dieser Institutionen zu mindern, wurden immer mehr auch kleine Spitäler dafür eingesetzt, Corona-Patienten zu betreuen – auch solche mit schweren Verläufen. Braucht es also doch jedem «Täli sein Spitäli»?

Für Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin des Spitalverbands H+, zeigt die Pandemie, «wie wichtig die Spitalstrukturen sowohl in den Zentren als auch in den Randregionen sind». Sie fürchtet insbesondere geplante neue Gesetze und Gesetzesrevisionen, die zu einer unkontrollierten Dezimierung der Spitallandschaft führen könnten. Dabei, so Bütikofer, sei der Wunsch der Bevölkerung nach nahen medizinischen Einrichtungen aus diversen Befragungen ersichtlich.

Fluide Spitalkonzepte
Dem hält Karl-Olof Lövblad, Präsident des Vereins der Leitenden Spitalärzte der Schweiz (VLSS) und Chef der Klinik für Neuroradiologie des Universitätsspitals Genf, entgegen, Corona habe vielmehr die Grenzen unserer kleinräumigen Versorgungsstrukturen aufgezeigt. Die Schweiz müsse ihre Spitalversorgung grösser denken und landesweit koordinieren. Lövblad hofft, dass die Corona-Krise den politischen Willen für eine Koordination stärken wird. Der Direktor des Kantonsspitals von St. Gallen, Daniel Germann, sieht es in einem Interview mit dem St. Galler Tagblatt ähnlich. Er ist überzeugt, dass die Pandemie die Konzentration von Spitälern beschleunigt.

Für den Gesundheitsökonomen Willy Oggier wiederum zeigt die Pandemie vor allem eins: Das Mantra «ambulant vor stationär» habe sich unter Corona als Trugschluss erwiesen. Wichtiger sei, wie flexibel und schnell Spitäler auf neue Herausforderungen hinsichtlich Infrastruktur und Personal reagieren können. Er sieht daher fluide Spitalkonzepte als Zukunftsmodell. Das spricht weder für eine Aufhebung kleiner Spitäler noch direkt dagegen. Wie bei so vielem, das in Zusammenhang mit der Pandemie steht, lassen sich im Moment kaum verbindliche Aussagen über die Zukunft machen. Klar ist nur: Corona wird die Spitalpolitik der Schweiz verändern.

Bildlegende

Das Kleinspital Val Müstair im Jahr 2012. Viele andere Kleinspitäler wurden bereits 0aufgelöst und mussten grösseren Strukturen weichen. Wird die Corona-Krise diese Flurbereinigung stoppen?

Bild: Keystone

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