Verdacht auf Vorrat

Um Überbehandlungen zu ahnden, müssen die Krankenkassen Arztrechnungen prüfen. Dazu setzen sie einen Algorithmus ein, der nach Auffälligkeiten sucht. Ärzte kritisieren dieses Vorgehen, weil sie zu Unrecht unter Verdacht geraten.

Patienten können mithelfen, die Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen: Bevor sie eine Arztrechnung bezahlen oder an die Krankenkasse weiterleiten, sollten sie sie prüfen. Denn der Patient weiss am besten, wie er tatsächlich behandelt wurde. Das scheint ein einfaches Mittel zu sein, um fehlerhafte Rechnungen zu finden. Allerdings haben viele Patienten Mühe, die Liste der erbrachten Leistungen auf der Arztrechnung nachzuvollziehen. Die Positionen, welche die medizinischen Leistungen aufführen, enthalten viele Fremdwörter, und die Angaben sind so stark verkürzt, dass sie nicht einfach nachzuvollziehen sind. Viele Patienten würden es wohl bevorzugen, wenn ein Profi die Rechnungskontrolle übernehmen würde – zum Beispiel ein Vertreter der Krankenkasse.

Algorithmen sind schlechte Ermittler
Das ist bereits der Fall. Von Rechts wegen überprüft Santésuisse, der Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer, die Daten der Leistungserbringer. Die grossen Krankenkassen haben zusätzlich eigene Ermittler angestellt. Um die Nadel im Heuhaufen  sämtlicher Arzt- und Spitalrechnungen zu finden, nutzen sie einen Algorithmus und die Gesetze der Statistik: Genauer überprüft werden jene Ärzte, die während eines Jahres pro Patient im Durchschnitt rund 30 Prozent mehr Leistungen ausweisen als die Vergleichsgruppe, oder bei einzelnen Positionen überdurchschnittlich hohe Zahlen ausweisen. Der Algorithmus geht automatisch davon aus, dass in diesen Fällen der Patient überbehandelt wurde. Dass der Arzt also die so genannten WZW-Kriterien nicht eingehalten hat, die eine Behandlung erfüllen muss: Sie muss wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Das Problem: Es gibt gute Gründe, weswegen ein Arzt oder eine Ärztin höhere Kosten als der Durschnitt auslöst.

Wie hohe Rechnungen entstehen
Die Krankenkassen berücksichtigten bisher in ihren Berechnungen das Durchschnittsalter und das Geschlecht der Patienten, denn ältere Menschen und Frauen verursachen tendenziell höhere Kosten als junge Menschen und Männer. Um die Kostenstruktur einer Praxis realistisch abbilden zu können, werden –  allerdings erst seit kurzem – weitere Variablen in die Berechnung miteinbezogen, zum Beispiel die Krankheitsbilder: Die Behandlung von zwei Rheumapatienten kann recht unterschiedliche Massnahmen und Medikamente erfordern. Beim ersten Patienten werden modernste Mittel eingesetzt, während beim zweiten die althergebrachten Medikamente sinnvoll sind. Das Kernproblem ist aber, dass die Morbidität unberücksichtigt bleibt: Betreut ein Arzt viele schwerstkranke, chronischkranke oder multimorbide Patienten, werden seine Rechnungen überdurchschnittlich hoch ausfallen. Auch der Standort der Praxis und die Anzahl der Selbstzahler aufgrund einer hohen Franchise beeinflussen die Rechnungsstatistik einer Arztpraxis. Besonders gefährdet, kostenauffällig zu werden, waren bisher Ärzte mit unterdurchschnittlich wenig Patienten, die jedoch teure Behandlungen brauchen. Häufig trifft dies auf ältere Ärzte zu, die ihre Patienten über Jahre oder Jahrzehnte behandelt haben und mit ihnen alt geworden sind. Die neue Vereinbarung zwischen Santésuisse und FMH mit den zusätzlichen Variablen dürfte die Situation künftig ein wenig entlasten.

Verdeckte Rationierung als Folge
Ist ein Arzt erst einmal im Visier der Ermittler, kann er sich nur mit viel Aufwand rechtfertigen. Die Kosten, den Arbeitsausfall und den allfälligen Imageschaden muss er selber tragen, auch wenn sich herausstellt, dass er zu Unrecht verdächtigt wurde. Noch schlimmer ist, dass das Vorgehen der Krankenversicherer sich auf die Behandlung der Patienten auswirken kann. So ist es vorstellbar, dass ein Arzt seinem Patienten ein günstigeres, aber weniger wirksames Medikament abgibt, um die Kosten tief zu halten. Komplexe Fälle verweist er vielleicht direkt an den teureren Spezialisten. All dies ist weder im Sinn der Patienten noch der Prämienzahler.

Eine ganze Branche unter Generalverdacht
Gemäss Dachverband Santésuisse gibt es in der Schweiz rund 2200 Ärzte, deren Rechnungen statistisch auffallen. Die meisten davon haben sich nichts zu Schulden kommen lassen: 2016 mussten sich nur gerade 98 Mediziner, das sind 0,27 Prozent aller berufstätigen Ärzte in der Schweiz, vor dem Strafgericht verantworten. Es ist unbestritten, dass die schwarzen Schafe unter den Ärzten, die zu viele Leistungen abrechnen, überprüft und sanktioniert werden sollen. Die FMH selber schliesst Betrüger, die eindeutig gegen die Standesordnung verstossen, aus dem Berufsverband aus. Eine ganze Branche unter Generalverdacht zu stellen nützt aber niemandem. Im Gegenteil: Indem sie junge Ärzte auf diese Weise verunsichern, tragen die Krankenversicherer sogar zum aktuellen Ärztemangel bei.

Bildlegende

Ist ein Arzt erst einmal im Visier der Ermittler, kann er sich nur mit viel Aufwand rechtfertigen. Die Kosten, den Arbeitsausfall und den allfälligen Imageschaden muss er selber tragen, auch wenn er zu Unrecht verdächtigt wurde. (Bild: iStockphoto)

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