Viel diskutiert, wenig verändert

«Was wissen wir vom schweizerischen Gesundheitswesen? Dass es gut ist. Dass es zu viele Spitalbetten gibt und zu viele Ärzte. Dass es immer teurer wird. So teuer sogar, dass alle Politiker und alle Medien sagen, man könne die Krankenkassenprämien bald nicht mehr zahlen. Aus Meinungsumfragen wissen wir auch, dass wir nicht bereit sind, auf die guten Leistungen dieses Gesundheitswesens zu verzichten.» 

Diese Textpassage stammt nicht etwa aus einer aktuellen Veröffentlichung. Sie erschien in der ersten Ausgabe von Politik+Patient im Jahr 2005. Das Gesundheitswesen beschäftigte die Schweiz schon damals: Gemäss einer Umfrage der Zeitschrift Reader’s Digest zählten die «Kostenexplosion im Gesundheitswesen» und die persönliche Gesundheit zu den drei wichtigsten Sorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Und die Politiker diskutierten über hohe Krankenkassenprämien oder über Massnahmen, um das Kostenwachstum zu bremsen und um den Beruf des Hausarztes attraktiver zu machen. 

Es scheint fast, als wäre die Zeit stillgestanden, als hätte sich in 20 Jahren Gesundheitspolitik nichts geändert. Noch immer diskutieren wir über Kosten des Gesundheitswesens: Zwar finden alle, die Krankenkassenprämien seien zu hoch. Auf Leistungen verzichten will aber niemand. Im Gegenteil, der Leistungskatalog wird laufend ausgebaut. 

Kampf für die freie Arztwahl – schon wieder
Titelthema in der ersten Ausgabe von Politik+Patient war die Aufhebung der Vertragspflicht. Wer hätte gedacht, dass wir dieses Thema zwei Jahrzehnte später immer noch – oder wieder – diskutieren? Und dies, obwohl die Bevölkerung sich zwischenzeitlich mehrmals für die Vertragspflicht und damit für die freie Arztwahl ausgesprochen hat. Die Analyse aus Politik+Patient aus dem Jahr 2005 ist heute unverändert gültig: «Die bisherigen Diskussionen in den Räten zeigen, dass man meint, etwas tun zu müssen, jedoch nicht weiss, was. In einem so komplexen System wie dem Gesundheitswesen gehen die dann folgenden Schnellschüsse letztlich zu Lasten des Patienten.» 

Die Krise in der Grundversorgung
Ein weiteres Thema im Jahr 2005 war der Hausärztemangel. Obwohl die Politik über zu viele Ärzte und entsprechend zu hohe Kosten klagte, zeigte das Beispiel eines Hausarztes in der Region Bern den damaligen Lesern, wie es tatsächlich um die medizinische Grundversorgung steht. Der Porträtierte hatte mehrere Jahre lang einen Nachfolger für seine Praxis gesucht und fragte sich: «Trauen sich die jungen Ärzte angesichts des politischen Drucks vielleicht nicht mehr in die freie Praxis? Scheuen sie das Risiko von der Politik in den Ruin getrieben zu werden? Oder sind es die zu übernehmenden älteren Patienten, welche die Fallkosten in die Höhe treiben und deshalb für Ärger mit den Krankenkassen sorgen? Ist der Beruf des Hausarztes schon so unattraktiv geworden, dass die Grundversorgung der Bevölkerung gefährdet wird?»

20 Jahre später müssen wir die letzte Frage leider mit einem Ja beantworten: In manchen Regionen gibt es kaum noch Hausarztpraxen, die neue Patientinnen und Patienten aufnehmen. Dasselbe gilt für Kinderärztinnen und -ärzte. Einige Gründe dafür: Es werden zu wenig Medizinerinnen und Mediziner ausgebildet, Notfalldienste am Wochenende und nachts sind wenig attraktiv, und junge Ärztinnen und Ärzte wünschen sich eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Doch auch die administrative Belastung und die Verunsicherung junger Medizinerinnen und Mediziner durch politische Scheinlösungen – wie zum Beispiel die oben erwähnte Aufhebung der Vertragspflicht – sind mitverantwortlich. Politik+Patient warnte schon vor 20 Jahren vor dieser Entwicklung. Denn die Ärztinnen und Ärzte kennen die Herausforderungen ihres Berufs. 

Die Politik hingegen versucht ein Problem mit Rezepten zu lösen, die sich bereits vor 20 Jahren als untauglich erwiesen haben oder die Situation sogar verschärfen. Würde man die Gesundheitsversorgung weniger durch die Kostenbrille betrachten, sondern konsequent die beste Versorgung der Patientinnen und Patienten anstreben, wäre dies undenkbar. 

Meilensteine: einheitliche Finanzierung und TARDOC 
Trotz aller Kritik: Einige Meilensteine hat die Schweizer Gesundheitspolitik in den letzten Jahren erreicht. Im vergangenen Jahr sagte die Stimmbevölkerung Ja zur Einführung der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Mit dieser Reform wird die Verlagerung von stationären Behandlungen in den ambulanten Bereich gefördert. Das wiederum bremst das Kostenwachstum. Die Vorlage ist der Beweis, dass die politischen Mühlen in der Schweiz zwar langsam mahlen, dass zuletzt aber doch sinnvolle Vorhaben umgesetzt werden können: Das Geschäft blieb während 14 Jahren im Parlament, bis es an der Urne angenommen wurde. 

Ein weiterer wichtiger Schritt steht bevor: Ab 2026 wird – nach jahrelangen Verhandlungen  – der veraltete Tarif TARMED aus dem Jahr 2004 durch den Einzelleistungstarif TARDOC und durch ambulante Pauschalen abgelöst. Der Schritt zu einer neuen Tarifstruktur war überfällig und wird neue Entwicklungen ermöglichen, obwohl Herausforderungen bei der Umsetzung des neues Tarifsystems bestehen bleiben. 

Weitere Anpassungen der Gesundheitspolitik werden nötig sein. Der Fachkräftemangel und die administrative Belastung von Ärztinnen und Ärzten sind aktuell die grössten gesundheitspolitischen Herausforderungen. Um passende Lösungen zu finden, braucht es aber nicht die 20-jährigen Rezepte, sondern einen konstruktiven Dialog zwischen allen Beteiligten. 

 

Hier finden Sie die erste Ausgabe von P+P im Online-Archiv.

Bildlegende

In 20 Jahren Gesundheitspolitik wurde im Parlament viel diskutiert. Um passende Lösungen zu finden, braucht es vor allem einen konstruktiven Dialog zwischen allen Beteiligten.

Bild: Keystone

Scroll to top icon